Innovation ist der Garant für unternehmerischen Erfolg und treibt Wirtschaft und Wissenschaft an. Gleichzeitig müssen auf dem Weg zum Innovationserfolg zahlreiche Barrieren überwunden werden. Die Rolle der Identität einer Organisation ist für eine nachhaltige Innovationsfähigkeit und stabile Innovationskultur entscheidend, wird aber bislang von Unternehmen noch nicht erkannt.
Es ist das Buzzword in der heutigen Wirtschaftswelt: «Innovation». Fast jede unternehmerische Bestrebung weltweit zielt inzwischen darauf ab, Produkte, Prozesse oder Strukturen der eigenen Organisation innovativer zu gestalten – eine ständige Suche nach bahnbrechenden Ideen und Neuerungen. Innovation ist ausschlaggebend dafür, langfristigen wirtschaftlichen Erfolg zu sichern und treibt Wirtschaft und Wissenschaft in rasender Geschwindigkeit an.
James Canton, Chef des Institute for Global Futures in San Francisco, prägte bereits vor über 10 Jahren den Begriff der «Innovationswirtschaft», welche der Industrie-, Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft folgen und ein neues Zeitalter einläuten würde. Die globalen Herausforderungen und Krisen der modernen Welt – wie der Klimawandel, Digitalisierung oder Pandemien – seien nur durch transformative Innovationen im technischen, sozialen oder ökonomischen Bereich zu bewältigen. Die Zukunftssicherung einer Gesellschaft und der darin befindlichen Unternehmen hängt also stark von der Innovationsfähigkeit dieser Organisationen und Akteure ab.
Gleichzeitig zeichnen die Statistiken ein düsteres Bild: 95% der Innovationsideen technologieorientierter Unternehmen scheitern (IAI Institut für angewandte Innovationsforschung, 2018), das Scheitern von Innovationsprojekten ist in den letzten Jahren um 50% gestiegen (Hays, 2018) und erfolglose Innovationen kosten die deutsche Wirtschaft jährlich bis zu 60 Milliarden Euro (Handelsblatt, 2019). Wie kann es also sein, dass immer noch so viele Innovationsinitiativen nicht erfolgreich sind?
Noch vor 20 Jahren wurde Innovation zumeist in Form einer relativ isolierten unternehmensinternen Forschungs- und Entwicklungsabteilung umgesetzt. Andreas Baetzgen, Professor für Strategische Kommunikation und Branding, beschreibt, wie sich im Laufe der Zeit das Verständnis von Innovation und die Übersetzung in entsprechende Strukturen Stück für Stück weiterentwickelte. Auf die bessere interne Vernetzung und Beteiligung zusätzlicher Abteilungen folgte die Optimierung von Prozessen bis hin zur Öffnung der Innovationsprozesse und Einbindung anderer, auch externer Akteure. Dabei stehen Technologie und die Steuerung „tool-basierter“ Innovationsprogramme bei vielen Unternehmen immer noch im Vordergrund (Schmitt, 2015). Das Bewusstsein für die fundamentale Bedeutung von Unternehmenskultur für den Innovationserfolg hat sich erst in den letzten Jahren entwickelt.
Blickt man heute auf die grössten Technologieunternehmen der Welt und versucht ihren Weg zum Erfolg zu rekonstruieren, ist bemerkenswert, dass sie ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus waren: Alphabet, Apple, Facebook und Co. haben von Anfang an die Strukturen und einen Nährboden für eine Kultur geschaffen, in der Innovation befähigt, gefördert und ermöglicht wird. Und dennoch ist die Frage nach den geeigneten unternehmenskulturellen Bedingungen und ihrer Umsetzung in der Organisation heute noch längst nicht bei der Mehrheit der Unternehmen angekommen.
Die Entwicklung einer Innovationskultur ist je nach Unternehmensstruktur, -historie und -tradition eine grosse bis extrem komplexe Herausforderung. Denn die Kultur einer Organisation basiert auf meist unausgesprochenen Werten, Normen und Überzeugungen. Sie ist also weitestgehend implizit und bleibt oftmals unsichtbar und diffus. Um sie gezielt steuern, gestalten oder verändern zu können, bedarf es eines gewissen Kulturbewusstseins, welches jedoch bei den meisten Organisationen nicht besonders stark ausgeprägt ist.
Doch selbst eine Kultur, die weitestgehend im Verborgenen und Unterbewussten stattfindet, wird über zahlreiche Dimensionen konkret erlebbar: zum Beispiel über die Führung und ihr Vorbildverhalten, die Vision, Strategie und Ziele eines Unternehmens, über den Umgang mit Mitarbeitern, explizite und gelebte Werte, über vorhandene und fehlende Kommunikation, über die Strukturen, Prozesse und Architektur, die das Arbeiten prägen, und schliesslich auch über den wirtschaftlichen Erfolg. Diese Dimensionen werden nicht nur vom Kontext, sondern auch von der Identität der Organisation massgeblich mitbeeinflusst und geformt. Und genau hier, bei der Unternehmensidentität, setzt ein erweitertes und systemisches Innovationsverständnis an.
Die Identität kann also als eine Art Vehikel für die Entwicklung der Innovationskultur einer Organisation genutzt werden? Auf den ersten Blick scheint dies ein Widerspruch zu sein: Identität stabilisiert und stiftet Orientierung, ihr Bezugsrahmen sind Vergangenheit und Gegenwart. Innovation hingegen erneuert und verändert, sie ist Zukunft. Aber ist das wirklich so? Innovation kommt vom lateinischen «innovare», auf Deutsch «erneuern» oder «verändern». Hier stecken also im Begriff selbst bereits beide Dimensionen – Gegenwart und Zukunft: denn verändert oder weiterentwickelt kann nur werden, was bereits besteht.
Innovation und Identität stehen also nach diesem evolutionären Verständnis in einer fruchtbaren Wechselbeziehung. Unbewusst oder bewusst gesteuert – die Identität bestimmt Richtung und Ausmass der Innovation. Umgekehrt kann Innovation auch in das Unternehmen zurückwirken und die Unternehmensidentität erweitern und verändern. So hat beispielsweise ein Familienunternehmen im FMCG-Bereich die Phase der Transformation mit der Rückbesinnung auf die ureigenen Werte eingeleitet und dabei vorhandene Potenziale und Ressourcen freigelegt, die eine Brücke zwischen Herkunft und Zukunft schlagen. Dabei wurde entdeckt, dass der Gründer des Unternehmens selbst bereits Werte und Leistungen verkörperte, die zeitlos sind und eine entscheidende Orientierung für die Zukunft des Unternehmens bieten. Diese Werte und Leistungen haben einen Rahmen für die Kernorganisation geschaffen, aber auch ausserhalb für die Entwicklung und Erschliessung neuer Produktbereiche oder den Zukauf von Unternehmen und Startups den Grundstein gelegt.
Angesichts der bedeutsamen Rolle, die die Identität für die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens spielen kann, stellt sich die Frage, wie sie gezielt erschlossen und genutzt werden kann. Dabei kommt die Marke ins Spiel – und zwar nicht im Sinne einer Produkt- oder Servicemarke, sondern vielmehr als Unternehmensmarke bzw. Corporate Brand. Diese Corporate Brand verkörpert die Unternehmensidentität, gibt ihr eine Gestalt und schafft damit eine entscheidende Voraussetzung für die Beziehung des Unternehmens mit seinen diversen Stakeholdergruppen.
Für die Entwicklung der Innovationskultur eines Unternehmens macht es Sinn, sich fokussiert mit eben jenen Aspekten der Corporate Brand zu befassen, die relevant für die Innovationsfähigkeit sind – der Innovation Brand. Hilfreich ist hierbei die Analogie zur Employer Brand: Diese ist als Verkörperung der Unternehmensmarke als Arbeitgeber zu verstehen. Sie ermöglicht und erleichtert es der Unternehmensmarke, die Beziehung zu bestehenden und potenziellen Mitarbeitern zu gestalten. Analog dazu werden über die Innovation Brand jene Aspekte der Unternehmensidentität fokussiert, die innovationsrelevant sind – entweder weil sie als Potenzial für Innovation gezielt ausgeschöpft werden sollten oder weil sie Innovation behindern und daher weiterentwickelt oder kompensiert werden müssen.
Welche Dimensionen der Innovation Brand sind genauer zu betrachten? Es sind dies (1) die Leistungen, durch welche beantwortet werden soll, welche innovativen Potenziale das Unternehmen hat und welche konkreten Kompetenzen vorhanden sind oder allenfalls aufgebaut werden müssen. (2) Die Persönlichkeit, mit der zum Ausdruck gebracht wird, welche vorhandenen Werte die Innovationsfähigkeit fördern und welche Werte hierfür noch verankert werden sollten. Und (3) die Manifestationen, d.h. die Signale, die genutzt oder noch geschaffen werden müssen, um die Innovationsfähigkeit und -kompetenz gegenüber den relevanten Stakeholdergruppen zu vermitteln.
Die Innovation Brand kann im Unternehmen grundsätzlich drei Funktionen übernehmen. Sie kann als «Brennglas» für die Exploration fehlender und vorhandener Potenziale und Ressourcen in Bezug auf die Innovationsfähigkeit einer Organisation fungieren. Ausserdem lässt sie sich als strategischer Rahmen für die Entwicklung kulturfördernder Dimensionen innerhalb der Organisation einsetzen – von Führung und Vision bis hin zu Strukturen, Prozessen oder Architektur. Und schliesslich hilft sie als Bindeglied zwischen Herkunft und Zukunft in der Vermittlung und Mobilisierung. Denn einem Unternehmen helfen die kompetentesten Mitarbeiter nur bedingt weiter, wenn es ihm nicht gelingt, diese für seine Vision und Zielsetzungen zu gewinnen und sie durch eine fördernde Kultur dazu zu motivieren, ihre Ressourcen in die Innovationsfähigkeit der Organisation zu investieren: «You can have the best people, but if they’re not moving toward the same vision, it’s not going to work» (Jeff Bezos).
Vor dem Hintergrund des häufigen Scheiterns von Innovationsinitiativen ist es nicht nur extrem hilfreich, Identität für den Aufbau und die Entwicklung einer Innovationskultur zu nutzen. Wir halten es auch für dringend notwendig, sie im Innovationsprozess selbst zu berücksichtigen – auch wenn, oder gerade weil, hier auch Effizienz eine wichtige Rolle spielt.
Der Design Sprint von Google Ventures gehört zu den prominentesten Methoden der effizienten Innovationsprozesse. Dabei handelt es sich um einen insgesamt fünfteiligen Prozess zur Entwicklung von Innovationsansätzen und -ideen. Obwohl die Vorgehensweise zunächst einfach und intuitiv ist, ist der Erfolg der dadurch entwickelten Innovationsansätze nicht garantiert: oft scheitert die Implementierung am nicht gelebten «Commitment» und an fehlender interner Unterstützung. Durch die besondere Berücksichtigung der Identität und der Innovation Brand – vor allem am Anfang und am Ende eines solchen Sprint-Prozesses – kann dem entgegengewirkt werden. Der Design Sprint wird hierbei zu Beginn (Tag 1: Identität verstehen & Strategie definieren) und zum Schluss (Tag 5: Narrativ entwickeln & Innovation vermitteln), um wesentliche identitätsdefinierende und -stiftende Elemente erweitert und die Innovation Brand dabei als strategischer Rahmen genutzt.
Identität und Innovation stehen in einer Wechselbeziehung – das ist unumgänglich und kein Zustand, für den man sich entscheiden kann. Vielmehr muss die Frage gestellt werden, ob man darauf Einfluss gewinnen und ein gewisses Maß an Steuerungsfähigkeit erlangen möchte. Wer Identität als Bestandteil von Innovation begreift, hat mit ihr einen wichtigen Hebel für die Entwicklung einer Innovationskultur und damit für die Stärkung der Innovationsfähigkeit eines Unternehmens.
Mithilfe der Innovation Brand als Steuerungsinstrument für die Identität einer Organisation kann eine Brücke zwischen der Herkunft eines Unternehmens und seiner Zukunft gebaut werden. Dies kann nicht nur fruchtbar für die Entstehung und Entwicklung von Innovationslösungen sein, sondern auch für deren Vermittlung an relevante oder entscheidende Stakeholdergruppen. Denn ein überzeugendes Narrativ, das Innovation aus der Identität der jeweiligen Organisation ableitet, diese in den Kontext der Unternehmensvision stellt und damit einen wichtigen Bezugsrahmen liefert, kann dabei helfen, weitere wichtige Entscheider und andere relevante Stakeholder im Innovationsprozess zu mobilisieren. Ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg liegt also darin, Innovation auch als einen zutiefst menschlichen, im Sinne eines kollektiven, kulturellen Prozesses zu begreifen, in dem die Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und Unternehmen eine enorm wichtige Rolle spielen.
Über die Autorin
Anita Lotterschmid ist Partnerin und Director Brand Consulting bei Sasserath Munzinger Plus in Berlin. Sie sammelte Erfahrungen in einem Startup und in internationalen NGOs bevor sie in die Markenberatung wechselte. Seit mehr als 10 Jahren berät sie bei SM+ Kunden in verschiedenen Branchen – darunter Energie, Telekommunikation und Retail.